Diesem wichtigen Thema möchte ich einen eigenen Beitrag widmen, da es viel und kontrovers diskutiert wird.
Ich unterscheide bei Abhängigkeit grundlegend zwischen krankhafter/pathologischer Abhängigkeit und alltäglicher Abhängigkeit.
Ich glaube, dass wir IMMER und jeden Tag ABHÄNGIG sind von anderen Menschen. Selbst wenn wir über die Kindheitsphase hinausgewachsen sind, einen zufriedenen Singlehaushalt führen und mit uns im Reinen sind. Wir sind abhängig vom Bauern, der das Getreide für unser Brot anbaut und erntet und vom Müller, der es zu Mehl verarbeitet. Wir sind abhängig von Infrastruktur, Wirtschaft und Handel, von den Nachbarn, die hoffentlich die Nachtruhe einhalten oder von der Textilindustrie, die unsere Kleidung näht, weil wir das nicht selbst können oder nicht die Zeit und Ressourcen haben, es selbst zu tun. Wir sind abhängig von den Menschen, die die Ampelschaltungen der Straßen und die Echtzeit-Zugfahrpläne am Bahnhof überwachen und koordinieren. Wir sind abhängig vom Piloten, Busfahrer und von der Fahrweise anderer Verkehrsteilnehmer, um unbeschadet am Ziel anzukommen. Und wir sind abhängig von den Notfallchirurgen, wenn es mal Zwischenfälle gab. …Du kannst etliche weitere Beispiele finden.
Es gibt immer Dinge, die andere besser können als wir – oder die gemeinschaftlich besser oder überhaupt nur mit mehreren anpackenden Händen gelingen, wie der Bau von Gartenlaube bis hin zum Hochhaus oder der Rheinbrücke oder dem Finden neuer Ideen und Lösungen für erkannte Probleme.
Und deshalb sage ich, dass wir generell abhängig von anderen sind – und das ist normal und auch ok so.
pathologische Abhängigkeit
Pathologische Abhängigkeit wird es immer dann, wenn wir auf emotionaler Ebene uns von anderen Menschen abhängig machen, wo im Grunde keine natürliche Abhängigkeit bestünde. Dass ein Kleinkind von physischen Dingen wie Essen und Schutz, aber auch von emotionalen Dingen wie Liebe und Zuwendung durch seine Bezugspersonen abhängig ist, ist ebenfalls natürlich und normal. Doch wenn wir erwachsen werden, gibt es einige Bereiche, in denen man abhängig sein (oder sich abhängig machen – oder abhängig gemacht werden) kann, die nicht mehr natürlich und nicht mehr dienlich sind.
Zum Beispiel:
- Sich von dem Verhalten anderer Menschen emotional abhängig zu machen, statt die Verursachung der eigenen Gefühle bei sich selbst zu erkennen („Wenn er nicht pünktlich kommt, heißt das, er mag mich nicht und das heißt, ich bin nichts/weniger wert.“ / „Wenn jemand mein Oberteil kritisiert, fühle ich mich schlecht und als Mensch abgewertet“… etc.) – Jeder Mensch ist selbst dafür verantwortlich, was er fühlt; andere können AUSLÖSER dieser Gefühle sein, aber niemals Ursache. Wenn jemand ein Arschloch genannt wird, der mit sich völlig im Reinen ist, wird ihn das überhaupt nicht wütend machen, vielleicht fühlt er sich nicht einmal wirklich angesprochen. Sich klar zu machen, dass wir unsere Gefühle immer selbst in uns erzeugen und kein anderer ein Gefühl in uns hinein legen kann, egal was er tut oder nicht tut, entsteht eine ungeahnte Freiheit, Präsenz und gesunde Gelassenheit.
- Sich als Erwachsener wie ein hilfloses Kind zu verhalten und die grundlegende Verantwortung für das eigene Wohlergehen und Bedürfnisbefriedigung bei anderen zu suchen bzw. von anderen zu fordern, einen zu nähren, wie es damals das Kind von den Eltern auf (damals!) gesunde Weise eingefordert hat. Auch, wer als Kind nicht die Liebe und Anerkennung erhalten hat, die er gebraucht hätte(!) und wer dadurch als Erwachsener tiefe seelische Wunden hat und Schmerzen leidet, ist in der Verantwortung, heute liebevoll zu schauen, wie er sich helfen kann, sich zu nähren oder wo er sich Hilfe und Unterstützung holen kann, heil zu wachsen, damit diese Wunden heilen können – statt einen Ersatz-Papa oder Ersatz-Mama zu suchen, um weiterhin Fremd-Genährt zu werden. Denn damit setzt er die Reihe der Personen fort, die alle dem Vordermann in die Tasche greifen, weil sie selbst nichts haben. Es ist wie eine nie endende Kettenreaktion der Bedürftigen. Aber das Problem bei diesem erwachsenen Fremd-Genährt-Werden ist: Du musst auch essen, was man Dir dann vorsetzt – oder Du musst permanent kämpfen, um DAS zu bekommen, was Du eigentlich suchst und haben willst – oder Du musst ständig den Versorger wechseln, weil bisher keiner das lieferte, was Dich wirklich zufrieden machte bzw. was Du wirklich brauchtest – Oder Du wirst abhängig von dem, was der andere NOCH liefert neben dem, was Du gern hast; denn dann bestimmt DER ANDERE als Ganzes, was Du bekommst und (bildlich gesprochen) zu „essen“ hast, da Du einen HANDEL eingegangen bist und Du damit auch DEINEN Anteil leisten musst, um im Gegenzug vom anderen (eventuell!) das zu bekommen, nach was Du hungerst. – Eine solche Handelsbeziehung geht in den seltensten Fällen lange gut. Und vor allem nicht als Ersatz für eine echte Partnerschaft, Freundschaft, Ehe etc.
- Sich nur von EINER EINZIGEN Quelle abhängig zu machen, die das liefert, was Du brauchst. Das geht los bei banal erscheinenden Beispielen wie dem EINEN einzigen Bäcker, bei dem Du immer deine Brötchen kaufst (was ist, wenn er Urlaub hat? Wenn er die Filiale schließen muss?) und es umfasst auch den Bereich der Freundschaften, die dadurch überstrapaziert werden, weil es nur 1 Freund/in gibt und dieser eine Mensch natürlich nicht immer auch genau dann und genau für den Zweck verfügbar sein kann, was und wenn Du es brauchst, da auch er noch andere Freundschaften neben Dir pflegt, jeder seiner Arbeitstätigkeit nachgeht oder Familie hat – und weil vielleicht nicht EINE einzelne Person gleichzeitig der beste Zuhörer und der beste Sportpartner oder der Mensch ist, mit dem Du am liebsten über lustige Dinge lachst oder ins Kino gehst… usw.
[Ich sage hier selbstverständlich nicht, dass dieser Punkt auch umfasst, möglichst viele Lebens-/Liebes-Partner parallel zu haben, um sich vorsorglich „abzusichern“, falls mal ein Partner die Beziehung zu Dir beendet oder nicht mehr „passt“. – Denn Partnerschaften und Freundschaften (generell engere und vertraute menschliche Beziehungen) sind keine Objektbeziehungen und es ist nicht dienlich, auch nicht für das eigene Wachstum oder mögliche andere Personen, die involviert sind (Kinder oder ihrerseits wieder abhängig gewordene ältere Menschen o.ä.), immer die Strategie des geringsten Widerstandes bzw. der geringsten Anstrengung zu wählen. Denn dies würde bedeuten, lieber einer Weiterentwicklung und jeglichen konstruktiven Auseinandersetzungen und Problemen aus dem Weg zu gehen, statt daran (auch gemeinsam) zu wachsen. Ich übertreibe jetzt, um es zu verdeutlichen: Wer den Partner wechselt, sobald kleinste Ungereimtheiten auftauchen, oder wer immer nach dem Lustprinzip lebt und sobald es langweilig zu werden droht, er lieber eine Beziehung beendet und ein neues Abenteuer sucht, der wird damit früher oder später auf die Nase fallen. Weil er damit andere Menschen nur benutzt und sie nicht als ganzen Menschen achtet oder weil er im anderen dann eine Gegenreaktion provoziert, die ebenfalls nicht komfortabel ist oder weil er damit verhindert, sich selbst zu reflektieren und sich weiterzuentwickeln – Und weil er damit immer abhängig bleibt von der Gunst der anderen, von dem „richtigen/ idealen (und meist idealisierten!) Partner“, von der „Gemeinheit der Welt, die immer nur unpassende Partner liefert“ oder er abhängig ist von seinen eigenen Impulsen und deren (kurzfristigen und langfristigen) Konsequenzen.]
- Fremderzeugte-Abhängigkeit: Von ANDEREN dazu benutzt werden, deren Bedürfnisse zu stillen, für deren Befriedigung man eigentlich nicht (oder nicht als „einzige Option, die infrage kommt“) zuständig ist. Und dieses Eingefangen-Werden und Benutztwerden kann sehr subtil oder sehr deutlich über Drohungen, Vorwürfe, eingeredete Schuldgefühle etc. erzeugt werden. Wer dies erkennt und in einer solchen pathologischen und Leid erzeugenden Struktur als Gebender verbleibt, der schadet sich damit selbst, während er dem anderen vielleicht im besten Fall tatsächlich hilft. Und wenn die Rechnung unter dem Strich Null lautet, weil der eine nur GIBT und sich kaputt macht und der andere nur NIMMT und es ihm damit gut geht (oder auch nicht gut geht und er wie ein Fass ohne Boden immer mehr von der Gabe einfordert, um sein nie voll werdendes Gefäß zu füllen…) – der sollte nach Wegen oder Unterstützung Ausschau halten, diese Struktur zu verlassen oder so zu verändern, dass eine echte win-win-Situation entsteht.
- Co-Abhängigkeit: Hier handelt es sich eigentlich um einzelne oder eine Mischung oben genannter Faktoren – und meist noch zusätzlich um ein Ego-Problem. Warum? „Weil sich ein Mensch für einen anderen aufopfert und er einem anderen hilft?“ Nein. Weil diese Aufopferung durchaus dazu dient, das eigene Ego zu stärken und Minderwertigkeitsgefühle mit dem künstlichen Erzeugen eines „Gebrauchtwerdens“ und einer Helferrolle zu überdecken. Eine Mutter würde niemals sagen, dass sie „co-abhängig“ ist von ihrem Kind, das ja de facto von der Fütterung und Fürsorge abhängig ist. Sie würde aber nie an Co-Abhängigkeit denken, weil sie es aus Liebe tut, weil es eine echte natürliche Abhängigkeitsphase ist und weil sie durch die Liebe zu ihrem Kind nie „entleert“ wird von ihrem Geben und weil sie sieht und fühlt, dass durch ihre Liebe so viel Liebe vom Kind zurück kommt und es einfach passt, auch wenn es manchmal anstrengend ist. – Aber ein Partner eines z.B. alkoholabhängigen Menschen fühlt sich „co-abhängig“, weil er glaubt, diesen Partner „retten“ zu müssen oder ihm helfen zu wollen/müssen, mit dem Alkoholmissbrauch aufzuhören („denn es macht ja sonst keiner“/ „denn ich kenne ihn am besten und auf mich würde er vielleicht noch hören“ o.ä.). Doch kein Therapeut, der seinen Beruf wirklich liebt und kein Mensch, der einen gesunden Selbstwert hat und der den Betroffenen („Abhängigen“) liebt, wird co-abhängig werden. Denn es ist niemals dienlich, wenn Helferrolle und Opferrolle zusammenfallen. Und es ist gesund, den anderen Menschen zu achten und zugleich auch die eigenen Grenzen zu achten und man kann einem anderen Menschen in Liebe eine Krücke reichen, aber nicht selbst die Krücke sein. (Denn damit verhindert man letztlich nicht nur das Wachstum des Betroffenen, sondern verleugnet auch sein eigenes Ich und gibt seine Freiheit und Entfaltung und sein eigenes Leben auf für ein Gefühl des Gebrauchtwerdens, das letztlich nur den Schmerz eines inneren Mangels überdecken soll, den man aber auf eine co-abhängige Weise nie wirklich nähren kann.) HELFEN können wir anderen Menschen immer. Und es ist dann Hilfe, wenn sie tatsächlich gebraucht (und niemandem „gut gemeint“ übergestülpt) wird und wenn sie aus dem Herzen kommt und niemandem schadet (weder anderen, noch sich selbst) und sie somit zu mehr Liebe, mehr Gutem, mehr Freiheit und mehr Bewusstsein und Lebendigkeit führt.
DASS wir als soziale Wesen abhängig sind von der Existenz anderer Menschen und von einem gesunden Maß an Nähe, Beziehung und Zugehörigkeit, ist natürlich. Aber WIE wir unsere Beziehungen gestalten und ob wir daraus eine pathologische Abhängigkeit machen, die letztlich noch mehr Krankheit und Schmerz hinterlässt, als versucht wurde, zu lösen… – oder ob wir die Synergieeffekte nutzen und damit zu Liebe und Freude kommen und gemeinsam über uns hinaus wachsen… Das entscheiden wir selbst.
Und wie schon Aristoteles sagte: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.“ – Wir Menschen können gemeinsam Dinge tun, Ziele erreichen und förmlich Wunder vollbringen, die einer allein nie geschafft hätte.
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