Psychologie, Selbsthilfe und Persönlichkeitsentwicklung


„Autistisches Burnout“ und der dreibeinige Hocker

Mein Anliegen mit diesem Beitrag ist es, alle Menschen zu würdigen, die so viel Kraft täglich dafür einsetzen und die viel dafür geben, um an dieser Gesellschaft teilhaben zu können und ihren Beitrag für diese Gesellschaft leisten zu können. Und weil es gerade bei Menschen mit Autismus immer wieder mal zu „Hängern“ kommen kann… zu „Tälern“… zu dem erschöpften Zurückfallen und dem Problem, dass dann alle gute Energie für die begonnenen Projekte oder die Kraft für Sozialkontakte oder ein „Funktionieren“ in dieser Gesellschaft weg ist… und es dann weh tut, wenn keiner zu verstehen scheint, was wirklich hinter diesem Fall in die Tiefe steckt… und Ratschläge wie „nach dem Regen kommt auch die Sonne wieder!“/ „Lass Dich nicht hängen, das wird schon wieder!“… mehr Wut oder Verzweiflung hinterlassen als Trost.

Denn gerade bei Menschen mit Autismus handelt es sich bei solchen kraftlosen Zuständen in der Regel nicht um ein Problem aufgrund eines zu stressigen Jobs oder zu vieler Aufgaben oder eines schlechten Selbstwerts, den man nur von Leistung abhängig macht und man sich überstrapazierte o.ä. …, und es muss auch nicht durch Depressionen verursacht sein. Sondern es kann ganz andere Gründe haben, die wir hier einmal anschauen wollen. Und da es einem Burnout sehr ähnelt und wir mit diesem Begriff anderen vielleicht etwas klarer vermitteln können, um was es geht, habe ich es „autistisches Burnout“ genannt.

Dazu möchte ich im Folgenden ein Bild eines Drei-beinigen Hockers zur Verdeutlichung geben.

Doch zuerst schauen wir uns an, was uns Gerald Hüther in seinem Vortrag zur Neurobiologie und dem, was Menschen brauchen und was ihre Grundbedürfnisse sind1, genannt hat:

Es gibt zwei existenzielle menschliche Grundbedürfnisse. Diese sind:

  1. Verbundenheit, Geborgenheit, Zugehörigkeit
  2. Freiheit, Autonomie, Wachstum, Selbstentfaltung.

Diese Grundbedürfnisse sind in jedem Menschen, egal welcher Kultur er angehört, von Geburt an vorhanden – und gerade DURCH die pränatalen Erfahrungen entstanden, welche das kindliche Gehirn bereits im Mutterleib strukturieren. Jedes Baby hat erlebt, dass es aufs Engste mit einem anderen Menschen (der Mutter) verbunden ist und zugleich ist es jeden Tag gewachsen und hat seinen wundervollen Körper kennen gelernt, bis es sogar in der Lage ist, gezielt seinen Daumen in den Mund zu stecken.

Und da diese Grundbedürfnisse in jedem Menschen angelegt sind, müssen sie auch nach der Geburt – in der Welt, in der Familie, im eigenen Leben – befriedigt werden. Wir brauchen alle die Erfahrung und das Erleben, dass wir prinzipiell irgendwo dazu gehören und mit anderen Menschen verbunden sein können und wir brauchen zugleich die Erfahrung, selbstwirksam als Gestalter unseres Lebens unseren eigenen Weg zu gehen und frei und autonom zu sein.

Geschieht dies beides nicht oder unzureichend oder können wir nur eines der beiden Grundbedürfnisse stillen und das andere liegt blank, erleben wir Schmerzen. Seelische Schmerzen – und diese werden im Gehirn laut Neurobiologie genauso abgebildet, wie körperliche Schmerzen. Es „tut uns weh“, wenn wir nicht dazu gehören dürfen, wenn wir ausgeschlossen werden, wenn wir keine Geborgenheit erleben dürfen. Und es tut genauso weh, wenn wir nicht frei gelassen werden, wenn wir keine Möglichkeiten bekommen, die Welt zu entdecken, über uns selbst hinaus zu wachsen und in jedem Lebensalter autonom und selbstbestimmt leben zu können.2

Nun haben autistische Menschen aber leider seit ihrer frühen Kindheit ein (angeborenes) Defizit darin, sich WIRKLICH verbunden zu fühlen mit anderen Menschen (u.a. auch aufgrund mangelnder ToM). Vielleicht merken sie dies erstmal gar nicht, weil sie es nicht anders kennen. Vielleicht bemerken sie erst später im Leben, dass sie eigentlich sehr einsam sind; und dies nicht einmal damit zu beheben ist, dass man sich mit anderen Menschen trifft, sich in eine Gruppe von Menschen eingliedert… Denn man kann sich kaum mit anderen Menschen richtig verbunden fühlen, wenn man nur über die Informationsebene, das gesprochene Wort miteinander interagiert und die anderen wichtigen nonverbalen Informationsebenen nicht oder nur unzureichend automatisch entschlüsseln kann [siehe ausführlichere Infos hierzu auch im Beitrag „Die 3 Verbundenheitskanäle neurotypischer Menschen“] Daher fühlt man sich auch nicht oder nur wenig BERÜHRT von einem Gespräch oder Kontakt mit anderen Menschen. Weil man seine Emotionen in sich selbst nicht so richtig spiegeln kann, nicht so richtig emotional in Resonanz gehen kann, wie es neurotypische Menschen ohne darüber nachzudenken einfach erleben.

Das ist das leider vielen bekannte Gefühl der „Glasscheibe“ zwischen einem selbst und den anderen.

Es gibt Betroffene, denen fehlt das Gefühl einer direkten Verbundenheit VON MENSCH ZU MENSCH. Vielleicht hat ein autistischer Mensch davon sogar manchmal nur noch eine vage Ahnung, was dieses Gefühl überhaupt sein könnte… Vielleicht weil das letzte Mal, als man dieses Gefühl erlebt hat, die vorgeburtliche Zeit in der Einheit mit der Mutter in ihrem Bauch war.

Es ist dann ein schwelender Schmerz, der im Untergrund da ist. Die Einsamkeit, trotz dass man vielleicht sogar Kontakte hat und Freundschaften pflegt.

Der dreibeinige Hocker

Ein Hocker mit drei Beinen steht gut und stabil. Hat er nur zwei oder ein Bein, wird er nicht stehen können und fällt um, wenn Du ihn loslässt.

Wir können uns nun vorstellen, dass die Beine dieses Symbols „Hocker“ aus den drei tragenden Säulen eines menschlichen Lebens bestehen: Das Grundbedürfnis nach Verbundenheit ist das eine Bein. Das Grundbedürfnis nach Wachstum und Selbstwirksamkeitserleben und Freiheit ist das zweite Bein. Und das dritte Bein ist ein weltlicher oder religiöser Glaube – die Hoffnung, dass alles irgendwie gut werden wird, auch wenn man gerade keine Ahnung hat, wie. Oder der Glaube daran, dass alles einen tieferen Sinn hat, auch wenn man ihn manchmal erst hinterher erkennt. Und es kann auch das Bein sein, welches wir mit Urvertrauen bezeichnen können.

Nun kann es sein, dass man als Mensch durchaus ein Urvertrauen hat. Vielleicht ein diffuses oder nur vages Gefühl davon, aber im Grunde seines Herzens ist man davon überzeugt, für alles irgendwann eine Lösung zu finden und dass es etwas gibt auf diese Welt, das einen hält.

Es kann auch sein, dass man als Mensch bereits den Tatendrang immer wieder spürt, seine Berufung zu leben, etwas anzupacken, loszulegen, seine Ideen zu verwirklichen oder darüber nachzudenken, was man tun wird… sich Ziele zu setzen und loszulaufen… Man hat also auch ein Hocker-Bein, das sich „Freiheit“ nennt.

Was aber, wenn man immer wieder merkt, dass man diese Energie, diese Kraft, seine Vision oder seine Pläne zu verwirklichen, nicht dauerhaft halten kann?

Was, wenn man immer wieder an seine Grenzen kommt und dann in den Augen anderer „in ein Loch fällt“/ „depressiv wird“ oder eben einfach das Gefühl hat, dass man es doch nicht mehr schafft, was man sich da vorgenommen hat – selbst wenn diese Vorhaben völlig realistisch sind und manchmal einfach „ein normales, gutes Leben“ sind?

Was ist, wenn es gar keine „echten Depressionen“ sind, sondern vielmehr ein Burnout? Ein Erschöpftsein, eine Kraftlosigkeit, weil man seinen „Lebens-Hocker“ permanent auf den nur 2 Beinen aufrecht halten muss – auch WILL, aber sobald man entspannt, loslässt… der Hocker wieder umfällt…?

(Natürlich kann jeder, auch ein Mensch mit Burnout, zusätzlich eine Depression entwickeln. Ein klassisches Burnout hat auch depressive Anteile bzw. kann in einem späten Stadium eine schwere Depression sein. Aber was ich hier verdeutlichen möchte ist, dass es ein UNTERSCHIED ist, ob man durch negative Gedankenschleifen, negative Überzeugungen, schlechte Zielplanung (sich überschätzen) mit gleichzeitigen Selbstwertproblemen und „nicht-aufhören-können“ zu Leisten und zu Tun… etc. in ein Burnout und depressive Episode rennt, oder ob man schlicht und ergreifend keine Kraft mehr hat für etwas, das prinzipiell permanent Krafteinsatz kostet und es nicht zu viel Kraft kosten würde, wenn der Hocker auf all seinen drei Beinen stünde.)

Kein Mensch kann immer „geben“. Kein Mensch kann immer nur „leisten“. Kein Mensch kann immer nur „wach sein“. Er muss auch mal schlafen, ausruhen, Energie bekommen.

Und so kann es sein, dass es Menschen gibt, die in Ermangelung eines dritten Hocker-Beines – auch wenn sie ihre Pläne, Visionen, Projekte und Ideen sehr begeistert umsetzen und gern sich damit beschäftigen – immer wieder Burnout ähnliche Zustände erleben, wo einfach nichts mehr geht. Denn dieses „Energie-Bekommen“, das ich eben genannt habe, kann auch einfach dadurch geschehen, dass ein dreibeiniger Hocker immer im Wechsel mal von dem einen mal von dem anderen seiner Beine „genährt“ wird und er grundlegend dennoch immer sicher auf allen dreien steht (statt immer vor dem Fall geschützt und mit zusätzlicher Kraft stabilisiert werden zu müssen).

Und solche Burnout-Zustände können ZUSÄTZLICH (neben einer eventuell permanent latent vorhandenen Einsamkeit) auch dadurch verursacht werden, dass die Energiekapazität, welche man täglich zur Verfügung hat, immer wieder überstiegen wird, weil man gerade als autistischer Mensch viel mehr Kraft dafür braucht, in sozialen Situationen „normal“ zu interagieren, sich in gesundem Maß anzupassen an die Gesellschaft, ein Gespräch zu führen usw. usf. Oder (nur der Vollständigkeit halber): Es kann natürlich auch noch eine Überforderung durch Reizüberflutung sein. Soziale Reizüberflutung wie auch Reizüberflutung auf allen möglichen Sinneskanälen.

Und ich möchte allen Menschen diesen Beitrag widmen, die es kennen, wenn andere zu ihnen dann sagen: „Ach, das wird schon wieder.“/ „Lass den Kopf nicht so hängen!“/ „Ich wünsche Dir viel Kraft, das ‚Tal‘ zu durchstehen, es kommen auch wieder Sonnenscheintage.“ … Denn es ist nicht „nur ein Tal“. Es ist das grundlegend fehlende 3. Hockerbein oder die permanente Überforderung eines autistischen Gehirns, in einer nicht-autistischen Welt zurecht zu kommen. Aber DIES wissen die meisten Menschen nicht, die dem Betroffenen solche gut gemeinten Ratschläge geben, und viele können es auch nicht nachvollziehen oder nachempfinden.

Vielleicht wurde das fehlende 3. Hockerbein irgendwann im Leben ersetzt durch eine Sucht, ein emotionales Essen, Alkoholkonsum oder eine kontinuierliche Ablenkung, ein permanentes Herumwuseln und Umtriebigkeit, nur um die tiefe Traurigkeit nicht zu fühlen. Vielleicht spielt man gern Computerspiele, vielleicht tut man das auch jeden Tag und erlebt dabei einen Ersatz für Verbundenheit mit den Mitspielern oder durch viele Erfolge und Siege auch immer wieder neue Energie für das zweite Hockerbein „Autonomie und Wachstum“, das den Hocker dann immer wieder eine Weile stehend halten kann – Aber wenn Du jemand bist, der immer wieder merkt, dass die Energie irgendwann raus ist… oder „Täler“ kommen… Sei dir gewiss, es geht auch anderen so und es ist nicht immer nur eine negative Grübelei oder mangelnder Wille, weiter zu gehen.

Es ist verstehbar und verständlich, wie man reagiert, wenn der Hocker prinzipiell nur eines, zwei oder zwei-einhalb Beine hat. Oder nur ab und zu mal drei. Es kostet immer Kraft, die einem an anderer Stelle fehlt, wenn man den Hocker halten muss, damit er nicht umfällt.

Ich möchte diese Kraftanstrengung aller Menschen, denen es so geht, würdigen. Denn es ist nicht immer der beste Weg, in solchen Momenten dann Durchhalteparolen und Ratschläge zu bekommen.

Es ist auf der andren Seite auch nicht der beste Weg, sich zu sehr in Selbstmitleid zu verlieren – Aber es ist etwas anderes, ob ich meine Augen vor Problemen verschließe (nur, weil man nicht „negativ denken“ soll) – oder ob ich liebevoll hinschaue und SEHEN WILL, was ohnehin bereits DA IST an Fakten – und ich dann wahrnehme, dass der Hocker vielleicht gerade weniger als drei Beine hat und ich mich liebevoll in dieser Not annehmen kann, ich meine Not-wendigen Verhaltensweisen würdigen kann, die vielleicht nicht immer besonders gesund sind, aber die für den Moment helfen, es auszuhalten und den Hocker weiter halten zu können – Und DANN von dieser realistischen Innenschau aus (vielleicht mit therapeutischer Hilfe, vielleicht mit einem guten Freund oder in Selbstreflexion und Selbst-Liebe) man beginnt Wege zu finden, den eigenen Hocker auf die bestmöglichen drei Beine zu stellen, die es gibt. Sodass immer wieder genügend Entspannungsphasen im Leben da sind, um sich wohl zu fühlen und das zweite Bedürfnis nach Selbstverwirklichung und Freiheit in passender Weise leben zu können (statt sich an Phasen von Begeisterung oder „Loslegen“ nur hochzuziehen und immer wieder zu merken, dass die Kraft, die man da hinein steckt, irgendwann aufgebraucht ist und man wieder fällt…)

Denn mit einer „Würdigung“ eines Problems ist es noch lange nicht getan und dies hilft auch nur im ersten Schritt weiter.

Vielleicht braucht es nun im nächsten Schritt kreative Ansätze, mit einem zweibeinigen Hocker (egal welche zwei Beine individuell da sind) dennoch die Balance zu finden. Vielleicht kann es ein neues, gutes, drittes Bein geben. Vielleicht kann man aber auch für sich Möglichkeiten entdecken, die ein gigantisches echtes Verbundenheitsgefühl erlebbar machen… das einen mit Glück erfüllt und bei dem man dann merkt: WOW, SO fühlt sich Verbundenheit und Kontakt an! Wie schön!

Und dann wird man erleben, dass es FÜHLBAR wird, was das Sprichwort sagt: „Freunde sind wie Sterne, Du kannst sie nicht immer sehen, aber sie sind immer da.“ Und dass diese Verbundenheit nährt, nachhaltig da ist – und der Hocker steht.

Und Urvertrauen kann man ebenfalls in jeder Lebensphase wiederfinden. Es ist nie verloren. Nur manchmal überlagert von Traumata, schlechten Erfahrungen oder Wut aufgrund der Kraftlosigkeit, wenn der Hocker mit einem oder zwei Beinen immer wieder umfällt, wenn man ihn mal nicht mit Energieeinsatz festhält.

Kontakt ist erlebbar. Für JEDEN Menschen. Auch für autistische und auch für Menschen, die im klassischen Burnout stecken oder die depressiv sind oder die aufgrund von Traumata in fast permanenter Dissoziation und Entfremdung von der Umwelt und den anderen Menschen hängen. Davon bin ich zutiefst überzeugt. Weil ich Erfahrungen gemacht habe, die zeigen, dass es möglich ist.

Ich sage nicht, dass es leicht ist, die richtige Situation zu finden, den richtigen Therapeuten, den richtigen Partner… und ich sage auch nicht, dass man sich „von einem anderen Menschen abhängig machen“ soll, der dann dauerhafter Retter und Anker sein soll – Aber da wir alle MENSCHEN sind und als Menschen soziale Wesen sind… Da wir uns gegenseitig HELFEN dürfen und es keine grundlegende Abhängigkeit ist, wenn sich ein Mensch neben einen anderen setzt, um gemeinsam besser aufstehen zu können und sich gegenseitig zu stabilisieren… ist es doch auch genau das, was unser Herz uns sagt, was uns im Herzen berührt: wenn wir liebevoll für andere da sein und Unterstützung sein können – und würdevoll Unterstützung annehmen können, wenn wir selbst mal nicht allein weiter kommen.

[einen ausführlichen Artikel zum Thema pathologische oder natürliche Abhängigkeit findest Du >HIER.]

Denn wie schon Aristoteles sagte: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.“ –

Wir Menschen können gemeinsam Dinge tun, Ziele erreichen und förmlich Wunder vollbringen, die einer allein vielleicht nie geschafft hätte.

Quellenangabe:

1 Prof. Dr. Gerald Hüther, In: https://www.youtube.com/watch?v=Ew5wpxDo0YI (Abgerufen am 20.01.2023)

2 Prof. Dr. Gerald Hüther, In: https://www.youtube.com/watch?v=xCx7imBbm5s (Abgerufen am 22.02.2023)

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