Psychologie, Selbsthilfe und Persönlichkeitsentwicklung


Analogie: „Das Kind in der Anonymus-Gesellschaft“

Wie können wir es uns vorstellen, wie sich ein autistisches Kind fühlt? Wie könnte man in Worte fassen, was  für manche von uns fremd und für andere Alltag ist? Eine Analogie zum besseren Verständnis der Welt eines autistischen Kindes – und wie es Teenie und erwachsen wird.

Stell Dir vor, Du lebst in einer fremden Welt. Du wirst geboren und alle Menschen, die auf dieser Welt leben, haben die gleiche, schlichte, dunkelblaue Kleidung an. Alle sehen fast identisch aus. Vielleicht ist der reine größer und der andere etwas kleiner, aber da alles wie ein „Einheitsbrei“ wirkt, bist Du nicht sonderlich interessiert an diesen Wesen. Sie machen Dir manchmal sogar Angst, denn sie haben alle auch noch diese identische, schlichte, dunkelblaue Maske auf dem Gesicht. Als Du bei Deiner Mutter auf dem Arm warst, hast Du schon mal diese Wesen um Dich herum beobachtet. Du konntest immer nur ihre Pupillen sehen, nicht die ganzen Augen, nichts Weiteres von ihrem Gesicht. Aber Da du es gar nicht anders kennst, ist Dir nicht bewusst, dass es überhaupt Masken sind. Es ist immer so. Bei jedem. Und selbst Deine Mama hat dieses identische Gesicht. Du kannst aber ihre warme Stimme hören und diese Stimme kennst Du bereits aus einer Zeit, in der Du noch in ihrem Bauch lebtest und geübt hast, Deinen Daumen in den Mund zu stecken. Es ist diese vertraute Stimme, dieser vertraute Herzschlag, den Du spürtest, als sie dich dann auf dem Arm gehalten hat. Und Deine Mama hat ganz besondere Hände. Sie trägt immer einen schmalen goldenen Ring an dem einen Finger, der manchmal so schön im Licht glitzert, und sie hat schmale Hände und an ihrem Daumen ist oben drauf eine kleine weiße längliche Hautstelle. Sie hat Dir mal erzählt, dass das eine Narbe sei. Was auch immer das ist… Aber Du weißt ganz genau, wie diese Narbe aussieht. Sie gehört zu Deiner Mama. Aber ihre Sprache ist noch heute, wie auch die der anderen großen und kleinen Gestalten, die hier auf dieser Welt herumlaufen und Dinge tun, häufig nicht verstehbar für Dich. Vielleicht sprechen sie eine Fremdsprache, die Du in Fetzen verstehen kannst. Vor allem Deine Mama kannst Du am besten verstehen, denn sie sagt seit Du auf der Welt bist, immer dieselben Laute in derselben Situation und Du weißt, wenn sie „Gutenachttimo“ sagt, wenn Du abends in Deinem Bett liegst und Deinen Plüschhasen fest in der Hand hast, dass sie sich dann langsam umdreht, zur Tür läuft, das Licht ausschaltet, sich dann noch einmal umdreht und die Tür schließt. Dann ist es Schlafenszeit. Es gibt einige solcher Situationen, die Du mittlerweile verstehst. Aber Du kannst beobachten, dass die anderen Menschen ganz oft sehr viel Lärm machen und wenn mehrere Menschen in einem Raum sind und sprechen, wirkt es wie eine rauschende Wand aus Geräuschen… wie ein Durcheinander, das aber fürr all diese Menschen eine Freude zu sein scheint.

Nun, da Du schon ein großes Kind geworden bist und auch gelernt hast, dass Deine Mama und Dein Papa und Deine Schwester immer mit Dir auf die gleiche Weise am Tisch in der Küche sitzen und ihr zusammen esst, wenn der große Zeiger der Wanduhr ganz oben ist und der kleine entweder ganz unten oder ganz oben – und vor allem Deine Mama auch jeden Tag für Dich da ist und Deinen Tag mit Dir lebt, so sind Dir diese Wesen bekannt geworden. Sie haben Namen, genau wie Du. Und Du erkennst einigermaßen ihre Stimmen, vor allem wenn Du weißt, dass hier alle Menschen Deiner Familie sind, so wie jeden Tag. Außer es ist Besuch da, das ist so schlimm für Dich dann! Alles ist durcheinander und diese fremden Wesen sind so unberechenbar!

Mittlerweile hast Du auch ihre Sprache besser gelernt und Du bist glücklich, weil Du sagen kannst, wenn Du Hunger hast und dann Deine Mama zu Dir kommt und Dir etwas zu essen gibt. Manchmal darfst Du es Dir am Esstisch auch allein nehmen und auf Deinen Timo-Teller tun. Es tut gut, wenn es immer derselbe Teller ist. Eben der Timo-Teller. Genau der. Er hat einen gewellten Rand, auf dem ein dünner orangener Strich rings herum verläuft. Und ansonsten ist er ganz weiß. Und das sieht schön aus, wenn das Essen bunt darauf liegt und rings herum weiß ist. Und weil es immer so ist, musst Du da keine Angst haben, dass etwas auf einmal wie aus dem Nichts passiert.

Aber trotzdem machen Dir vor allem fremde Menschen noch immer manchmal Angst. Kleine Fremde und große Fremde. Wobei die kleinen meistens so laut sind und es ist beängstigend, weil sie oft so plötzlich und wie aus dem Nebel heraus Dinge tun, die Du nicht verstehen und vor allem nicht vorhersehen kannst! Sie schubsen Dich sogar manchmal und Du fällst hin. Und das Problem ist, es könnte prinzipiell JEDES dieser Kinder hier auf einmal vor Dir stehen und Dir ganz laut etwas sagen und mit seiner Maske ganz nah an Dein Gesicht kommen – und ob das dann freundlich gemeint ist oder ob es sich manchmal genauso anhört, aber es dann doch seine Arm ausstreckt und dich schubst oder schlägt… das ist nie vorhersehbar und es ist so verwirrend! Mit den Wesen Deiner Familie ist das nicht so. Denn Du kennst mittlerweile sehr gut die Verhaltensmuster, die immer wieder sehr ähnlich ablaufen. Zumindest dir gegenüber. Da weißt du, wie sie sich verhalten und wann sie etwas von Dir wollen und wann Du ungestört mit Deinem Auto spielen kannst und einfach etwas entspannen, weil es dann nur dich und das rote Spielzeugauto gibt. Es ist zuhause alles geordnet und übersichtlich und Du kannst ganz klar wissen, was als nächstes geschieht. …Aber was die Menschen deiner Familie manchmal untereinander tun… warum sie so zu zweit oder zu dritt nebeneinander stehen und nichts tun oder dann plötzlich anfangen zu lachen oder sie wild gestikulieren und sich zu freuen scheinen… oder wenn sie so die Dinge „ihrer eigenen Welt“ tun… ist Dir das alles selbst beim Beobachten zu durcheinander und zu unverständlich… weshalb es Dich gar nicht interessiert, und es zudem entspannter ist, wenn Du „auf Deiner eigenen Insel“ bleibst. – Das ist lustig; obwohl hier überhaupt kein Wasser oder eine Insel ist, sagen das die Erwachsenen oft, auch wenn Du Deinen Namen hörst und sie über Dich miteinander sehr lange irgendetwas sprechen. …Es ist schön zu wissen, dass hier zuhause nie etwas passiert, das dir plötzlich weh tun oder dich aus deiner Beschäftigung mit den Rädern deines Spielzeugautos, das du so sehr liebst, erschrecken könnte, wenn da wie früher manchmal von irgendwoher ein dunkelblau bekleideter Arm zu dir kommt oder etwas neben dich stellt oder es dich anspricht, während Du gerade dem leisen Summen der sich drehenden Räder deines roten Autos zuhörst und deinen Kopf ganz nah an dieses Geräusch hältst. Denn dann gibt es nur Dich und das Summen der Spielzeugautoräder überall um Dich herum. Und das ist entspannend.

Aber die Fremde und fremde Menschen überfordern dich.

Stell Dir vor, Du bist nun wie so manchmal in einem großen Raum mit dabei – und so, wie es diese dunkelblau bekleideten Wesen gern tun, sind da noch fünf oder sogar zehn andere dieser Wesen ebenfalls im Raum! Und sie kommen rein, manche gehen zielstrebig auf andere zu, es bilden sich Grüppchen, es wird viel geredet und ganz viel, was Du gar nicht verstehen kannst… Und das Verhalten der Menschen ist so unverständlich für Dich! Wieso machen diese Menschen das? Und wieso scheint von denen keiner irritiert zu sein, wenn da auf einmal jemand dazu kommt und er sich mit in den kleinen Kreis stellt und anfängt, mitzureden? Und wieso lachen sie, wenn sie sich manchmal leicht gegenseitig an der Schulter schubsen? Das ist doch nichts schönes, oder?

Aber das Schlimmste ist, dass sich Fremde manchmal plötzlich ganz anders verhalten, als Du es kennst von zuhause oder auch anders, als sie es sagen. „…Dann erschrecke ich. Auch wenn sie dabei sehr lieb sind. Aber es ist mir unklar, was oder ob sie etwas von mir wollen oder ob nicht. Und manchmal sprechen sie ganz neutral und dann plötzlich lächeln sie und wuscheln mir über den Kopf. Viele Maskengesichter schauen dann zu mir und manchmal kniet sich ein Mensch auch zu mir herunter und das macht mir Angst, weil ich nicht weiß, was er vorhat. …Will er mich jetzt auf den Arm hoch nehmen, so wie der eine Mann letzte Woche? Das tut manchmal sehr weh, das will ich nicht. Nicht mal von meiner Schwester! Das ist mir viel zu eng und zu viel, selbst wenn der Mensch es vorsichtig macht! …Oder will mich dieser Mensch hier jetzt nur etwas fragen, z.B. ob ich meinen Stoffhasen dabei habe? …Das müsste er aber eigentlich SEHEN. Wieso fragen Menschen so oft Dinge, die eigentlich offensichtlich sind?! Und auf der anderen Seite tun sie wieder Dinge, die überhaupt nicht offensichtlich sind – und das Schlimmste daran ist, dass ich mittlerweile merke, dass ich irgendwie anders bin als all diese Wesen. Gut, ich habe dieselbe Kleidung an, wie wir alle. Aber wieso scheinen diese Menschen sich alle untereinander so leicht zu verstehen und so unbeschwert miteinander Dinge zu tun…?

Es ist wie eine fremde Welt – und das sagt Mama auch manchmal. Aber sie meint damit MEINE Welt. Ich finde, es ist eher die Welt um mich herum.“

. . . .

Kannst Du Dir als Leser dieser kleinen Analogie vorstellen, wie es sich anfühlen kann, wenn man in Gesichter blickt, von denen man aufgrund eines nicht typisch arbeitenden Gehirns kaum oder gar keine Emotionen intuitiv ablesen kann, daher kaum oder keine Absichten erkennt und diese Absichten dementsprechend auch nicht kennen lernen und die Menschen einschätzen lernen kann…? Außer wenn man mit einer guten Intelligenz gesegnet ist, man dadurch auch die verbale Sprache komplett erlernt hat und man irgendwann mit seinem Verstand die Muster und typischen Verhaltensweisen erkennt – und man lernt, was Mimik bedeutet, man es vielleicht auch im Rahmen seiner Weiterentwicklung und mit viel Übung lernt, selbst anzuwenden.

Kannst Du Dir vorstellen, wie es sich anfühlen kann, wenn man all die nonverbalen Kommunikationsinhalte – selbst wenn man das Sprechen normal gelernt hat – dennoch gar nicht versteht; ja nicht einmal wahrnimmt, bis man irgendwann von jemandem darauf hingewiesen wird, dass es da noch mehr Informationskanäle neben dem reinen gesprochenen Wort gibt, die für die Menschen normalerweise noch viel wichtiger sind, weil sie hier sogar Gefühle miteinander teilen können… weil sie darüber erkennen und ganz intuitiv und automatisch, ohne den Gesichtsausdruck analysieren zu müssen, einfach in sich SPÜREN können, wie es dem anderen geht, selbst wenn dieser gar nichts spricht…?

Vielleicht mag diese Geschichte etwas übertrieben wirken – vielleicht mag der eine oder andere Leser hier sagen, dass ein Autist ja nicht gleichzeitig auch eine Prosopagnosie hat und ja auch nicht alle Menschen gleich angezogen sind… – Das ist richtig. Aber mein Anliegen mit dieser Analogie ist es, ein möglichst passendes GEFÜHL im Leser zu wecken, das widerspiegeln kann, wie sich ein autistischer Mensch fühlen kann – und v.a. wie sich auch autistische Kinder fühlen können, wenn man erklärt, dass „die Welt für ein autistisches Kind bedrohlich wirkt“ und es sein kann, dass gerade autistische Kinder, die noch nicht so viel Erfahrung gemacht haben und die diese fremde Welt/ oder in Anlehnung an Klaus Kokemoor1: diese fremde „Kultur“ der Menschen um sie herum erst kennen lernen müssen, von all den für ihr Gehirn nicht automatisch/“normal“ einsortierbaren Reizen und sozialen Signalen und -Situationen maßlos überfordert sind. Und diese Überforderung nicht selten dazu führt, dass das autistische Kind deshalb eigentlich den ganzen Tag damit beschäftigt ist, es durchzuhalten/ sich zu beruhigen/ etwas zu suchen, das Halt und Sicherheit gibt.

Vielleicht kann diese Analogie etwas Verständnis schaffen – für sich selbst und für die und im Umgang mit der anderen Art zu (Er-)Leben.

Quellenangabe:

1 Klaus Kokemoor bezeichnet die Welt der autistischen Kinder als eine „andere Kultur“, um mit diesem Begriff mehr Respekt und Offenheit für diese Menschen auszudrücken, als wenn man mit einem ablehnenden oder defizitär orientierten Blick auf Autismus schaut. Klaus Kokemoor, In: Autismus neu verstehen. Begegnung mit einer anderen Kultur. Fischer & Gann, 2016.

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