Psychologie, Selbsthilfe und Persönlichkeitsentwicklung


Frühes Trauma – Was hilft, ohne weitere Kraft zu kosten?

Es gibt Menschen, die haben bereits so vieles ausprobiert, so vieles getan und geübt… und irgendwie hat nichts bisher so wirklich geholfen. Was kann der Grund hierfür sein?

Ich möchte im Folgenden eine These zu diesem Phänomen mit Dir teilen. Einen weiteren möglichen Weg – wie wir etwas erreichen können für uns selbst und als Unterstützung für all jene Betroffene. Einen friedlichen Weg, der den Menschen wirklich sieht und der Sicherheit und Entspannung schenken kann.

Zum Thema von Schocktrauma/ singulären-/ Einzeltraumata wurde in der Vergangenheit viel geforscht und es gibt gerade in der Traumatherapie mittlerweile sehr gute und erprobte Methoden, die mit EMDR und vielen weiteren Techniken dem Betroffenen helfen können, das Leiden zu beenden und das erlebte Trauma in einer guten Psychotraumatherapie zu verarbeiten. Erwachsene wie auch Jugendliche mit unterschiedlichsten Traumatisierungen können sehr gut von diesen Therapien profitieren.1

Aber was ist mit jenen Menschen, die bereits in ihrer ganz frühen Kindheit traumatisiert wurden und die in ihrer Vergangenheit und Kindheit das erlebt haben, was man Entwicklungstrauma oder Bindungstrauma nennt – oder die sehr früh bereits in den ersten Jahren ihres Lebens traumatisiert wurden. Menschen, die keine gute, natürliche und tragfähige Bindung zu ihrer Mutter aufbauen konnten, kleine Kinder, die schreiend allein gelassen wurden, die absolute Unsicherheit und Ungewissheit in Bezug auf ihre Bindungspersonen aushalten mussten uvm.

Was können Menschen tun, die vielleicht bisher gar kein tragfähiges inneres Fundament aufbauen konnten, da sie bereits so früh in ihrer Entwicklung traumatisiert wurden? Was können Menschen tun, die noch nicht die Ressourcen haben und die sich innerlich kaum auf eine Zeit rückbesinnen und beruhigen können, „in der alles noch gut war“… eine Zeit VOR dem Trauma? Was können Menschen für sich tun, die vielleicht gefühlt noch nie wirklich entspannen konnten in ihrem Leben?

Kontakt

Ein traumatisierter Mensch hat jeden Tag alle Hände voll damit zu tun, zu funktionieren, zu überleben, durchzuhalten – und er wird sich zugleich dennoch anstrengen, alles so gut es geht an Übungen mitzumachen, Visualisierungen und gute innere Bilder zu erzeugen, sich im Hier und Jetzt zu orientieren, dysfunktionale Gedanken ausfindig zu machen… etc.

Aber was bisher vielleicht übersehen wurde ist, dass dieser Mensch damit nicht nur unglaublich viel (zusätzliche) Kraft aufbringt, sondern dass er auch damit im Grunde wieder allein bleibt. Er steht bildlich gesprochen auf einem Karussell und übt dort nun fleißig noch das Jonglieren und das Bälle Fangen und das Geradestehen… Aber auf dem Karussell steht nur dieser eine (innerlich wie äußerlich) „rotierende“ Mensch und da es nie anhält, wird auch kein anderer zusteigen.

Es wirkt, als bliebe dieser Mensch mit all dem, was er erlebt hat und all dem, was er jeden Tag alles leistet, allein. Und was auch Carl Rogers (Am. Psychologe) damit ausdrückt, wenn er sagt: „Jeder Mensch ist in einem sehr realen Sinn eine Insel für sich und er kann erst Brücken zu anderen Inseln bauen, wenn er zu allererst gewillt ist, er selbst zu sein und wenn ihm das erlaubt wird.“…Das Bild einer Insel passt an dieser Stelle sehr bildhaft dazu.

Und es zeigt uns zugleich das Dilemma, dass ein traumatisierter Mensch eigentlich Ruhe und Halt finden möchte, aber zugleich ein echter Halt und Kontakt sehr schwierig sein kann – nicht nur weil man so schnell auf seinem Karussell an allen anderen vorbei zu rasen scheint, sondern weil man alle Hände voll zu tun hat, überhaupt dort stehen und (über-)leben zu können.

Vielerorts wird auch früh-traumatisierten Menschen geraten, zunächst „viel Stabilisierung“ zu machen, was meistens bedeutet: Techniken zu erlernen, wie man mit Flashbacks/ Erinnerungsblitzen an das Trauma, die einen stark vereinnahmen können, umgehen kann bzw. diese unterbrechen und „ins Hier und Jetzt“ zurück kommen kann (Orientierungsübungen). – Aber was ist, wenn es diese konkreten Bilder und Flashbacks bei Menschen mit Bindungs- und Entwicklungstrauma gar nicht direkt gibt? Wenn es nur ein diffuses Gefühl der nahezu permanenten Anspannung ist?
Es gibt Menschen, die üben Orientierung und üben in ihrem Körper anwesend zu sein, nutzen Techniken/Skills, um sich zu beruhigen, aber ihr zu hohes Grundstresslevel will einfach nicht so recht sinken.

Wie können wir einem solchen Menschen begegnen?

Indem wir uns auf „seine Welt“ einlassen wollen. Indem wir ihn und sein (Er-)Leben wirklich kennen lernen wollen und mit ihm in Kontakt gehen – ganz liebevoll und ohne jegliche Absicht der Veränderung oder Manipulation.

Wenn ein Baby schreit, dann bringen wir uns zu ihm ganz intuitiv in einen liebevollen Kontakt, es kann sich beruhigen, wenn es in unsere Augen schaut und darin erkennen kann, dass in diesem Moment alles okay ist. Diese ruhigen und verlässlichen Augen, die gerade den Überblick haben, sagen, dass es nichts zu befürchten gibt. Und die Wärme und Geborgenheit sagen, dass es hier sicher ist und man beschützt wird.

Nun ist keiner von uns mehr ein Baby. Aber manchmal vergessen wir, dass wir noch immer als soziale Wesen diese Grundstrukturen in uns haben – und dass wir so unglaublich viel von echtem Kontakt mit einem anderen Menschen profitieren können… Einem Menschen, der uns nicht nur weitere Jonglierbälle zuwirft oder uns Mut und Stärke zuspricht und Durchhalteparolen ruft, sondern der einen ruhigen Raum schafft, um eine Brücke zu bauen zu unserer „Insel“ wie Carl Rogers sagt.

Ein Raum, der vielleicht das erste Mal nach sehr langer Zeit des Funktionierens wieder ein Durchatmen entstehen lassen kann. Nicht weil es das muss oder sollte – sondern weil vielleicht das erste Mal etwas erlebt werden kann, was Sicherheit überhaupt bedeutet. Nicht nur mit dem Kopf und Verstand, sondern mit dem ganzen Sein –

Es braucht – und zwar so lange, wie es gut ist – das ERLEBEN, das richtige reale 100%ige Gefühl davon, jetzt in diesem Moment (und sei es „nur“ in diesem Rahmen von z.B. einer Psychotherapie) sicher zu sein. Es braucht einen Ort zum Durchatmen. Wo der Mensch wirklich Sicherheit erfahren kann. Das heißt KOMPLETT, mit dem eigenen Körper, mit dem Kopf, den Gedanken, mit den Gefühlen – alles vereint – zu spüren: „Jetzt in diesem Moment ist es okay. Jetzt in diesem Moment ist wirklich alles okay und sicher. Es ist jetzt gerade gut. – JETZT in diesem Moment geschieht das Leben, jetzt in diesem Moment ist der einzige Moment, der wirklich WAHR ist. Ich bin jetzt und hier. Und hier ist es gerade gut. Ich bin hier aufgehoben, ich bin hier sicher, ich bin hier von diesem Menschen angenommen.“
Und es geht darum, diese Coregulation mit dem anderen Menschen, der mit einem ist, wirklich zu SPÜREN. Zu spüren, dass da jemand ist, der einen WAHRNIMMT ohne etwas haben zu wollen. Und der DA ist und Du nichts dafür tun musst.

Hier können auch ganzheitliche und den Körper mit einbeziehende Konzepte wie das Focusing von Eugene T. Gendlin2 sehr gute Dienste leisten – wenn die Haltung aller dabei stimmt und man auch Focusing nicht wieder als Methode und Mittel zum Zweck anwendet.

Unsere Haltung gegenüber Menschen – und gerade auch gegenüber traumatisierten Menschen – sollte stets ausdrücken: Ich bin bei Dir und habe ein aufrichtiges Interesse für Dich, Dein Erleben und Deine Welt.

Es geht um Präsenz. Weniger um „Intervenieren“.

Gerade traumatisierte Menschen haben sehr feine Antennen, können sehr fein wahrnehmen und reagieren auch unbewusst feinfühlig auf jede Veränderung in der Absicht ihres Gegenübers und auf jede Veränderung der Atmosphäre, die wir gemeinsam im Raum erschaffen.

Es geht darum, den anderen und das, was er erlebt, kennen lernen zu wollen. Und dabei präsent und „da“ zu sein. MIT dem anderen zu SEIN. So wird das Karussell in seiner Zeit anhalten, weil es nicht mehr angeschubst wird und weil der liebevoll ausgestreckte Arm des Menschen, der auf sicherem Halt steht, eine Brücke ist. Ein Brücke, die stabil steht und die Welten verbindet. Die nicht am traumatisierten Menschen zerrt, endlich von Karussell runter zu kommen und sich in der „Realität“ zu orientieren… sondern die anerkennt, weshalb dieses Karussell einst entstanden ist – die sich der Welt des anderen öffnet und wenn ein Mensch wirklich gesehen wird, wenn er durch das Gesehenwerden und die Halt schenkende stabile Brücke auch beginnt, die Ruhe zu spüren, die von dieser Brücke ausgeht… von der Welt um ihn herum… dann wird er in seiner Zeit mit dem anderen Menschen und dem stabilen Boden der Welt ringsum in Kontakt gelangen können – und zugleich in Kontakt zu seinem eigenen SELBST. Und wir wissen, dass echte Brücken immer Brücken im Außen und im Inneren sind. Halt und Kontakt im außen Schenken und Halt und ein neues Fundament und Selbstwirksamkeit im Inneren erfahrbar machen können.

Und dann, von da aus kann man weiter arbeiten.
Dann wissen und SPÜREN diese Menschen wo es hingehen kann, denn vielleicht haben sie dann das erste Mal in ihrem bisherigen Leben am eigenen Körper erfahren, was es bedeutet, wirklich zur RUHE zu kommen. Wie schön es sein kann, wenn das eigene Nervensystem vielleicht zum ersten Mal und wirklich bewusst und wahrnehmbar auf ein gesundes Level runter fährt. Wow. Und das ist die beste „Stabilisierung“ überhaupt; ganz ohne Stabilisierungstechnik. Einen sicheren Ort wirklich zu ERLEBEN und durchatmen zu können.

„Da ist jemand, der mich WAHRNIMMT. Und der DA ist.“
Das ist das größte Geschenk, das wir einem Menschen machen können.

Quellen

1 Prof. Dr. Gerald Hüther, Sucht als moderne Form der Angstbewältigung, 2010, URL: https://www.gerald-huether.de/mediathek-page/populaerwissenschaftliche-beitraege/inhaltliche-uebersicht/sucht/ (Abgerufen am 15.03.2018)

2 Eugene T. Gendlin, Focusing, In: Ann Weiser Cornell, Drei Schlüsselmerkmale von Focusing, URL: https://www.focusing-center.com/gratis/bibliothek/drei-schluesselmerkmale-von-focusing.html (Abgerufen am 12.02.2023)

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