[Diese kleine Geschichte soll eine Möglichkeit sein, neurotypischen/ nicht-autistischen Menschen ein erstes Verständnis für die Welt und das Erleben eines Asperger-Autisten zu schenken. Mit einer Problematik, die man auch als neurotypischer Mensch nachvollziehen und auf diese Weise vielleicht besser verstehen und auf den Autismus übertragen kann, dessen Welt einem möglicherweise noch sehr fremd und wenig greifbar scheint.]
Wer von Geburt an schwer hört und immer denkt, er hört genau wie alle anderen; vielleicht auch, weil in seiner Familie und in seinem Umfeld keiner das Thema einer Schwerhörigkeit kennt und die sich zeigenden Symptome und Probleme des Menschen auf alles Mögliche und Unmögliche geschoben werden; von fehlendem Willen, über die Absicht der Provokation, Bosheit, Frechheit oder eine blöde Marotte… Oder auf Dinge, „die sich noch verwachsen“. „Ach, das wird schon wieder anders werden, wenn das Kind älter wird. Sei konsequent und lasse sowas nicht durchgehen!“/ „Hoffentlich wird das bald besser! Das ist unerträglich, solch ein Verhalten!“, hört das Kind die Erwachsenen sprechen, doch es versteht sie nicht. Es versteht nur, dass es abgelehnt wird oder kritisiert und es lernt, sich noch besser anzupassen, von den anderen abzuschauen, wie sie sich verhalten, um niemanden zu provozieren oder zu verletzen – denn das wollte es ja niemals, sondern es wünscht sich in seinem Herzen immer Frieden und dass es allen gut geht. – So geht das tagein, tagaus, die Kompensationsstrategien werden immer besser, die Kraftanstrengung dabei immer höher und mit all dem bleibt der Mensch allein.
Und wenn alle anderen kontinuierlich diesen Menschen, weil man es ihm nicht ansieht, mit derselben Lautstärke und Geschwindigkeit ansprechen, wie sie gewöhnlich auch untereinander kommunizieren und sie explizit oder zumindest implizit erwarten, dass er es so gut versteht, wie alle anderen eben auch… Wenn dieser Mensch seit der Kindheit niemals auch nur ansatzweise darüber nachgedacht hat oder es ihm gesagt wurde, dass er möglicherweise anders hört als normale Menschen… Dann waren die Maßstäbe zu hoch, doch es bemerkte niemand. Aber er hat jeden Tag sein Bestes gegeben, alles so gut es geht zu überspielen, dabei auch möglichst unauffällig von den Lippen der Menschen abzulesen, ohne aber zu aufdringlich auf deren Mund zu schauen, da er schmerzlich im Laufe der Mobbingerfahrungen der Teeniezeit gelernt hat und dies bisher nie verstanden hat, warum Menschen scheinbar denken, dass man etwas vom Gegenüber partnerschaftlich will oder sie irritiert reagieren, wenn man ihnen zu offensichtlich auf die Lippen schaut… Und erst viele Jahre später wie in einem Aha-Moment beginnt dieser Schwerhörige die Mechanismen zu verstehen – wenn er merkt, dass er sein ganzes Leben bisher in einer anderen Welt gelebt hat, als die Menschen um ihn herum. Mit der zufälligen Erkenntnis, dass es noch etwas ANDERES im Bereich des Hörens geben könnte, Geräusche, die ihm bisher völlig unbekannt waren… Dass es neben der Welt, wie er sie von sich selbst kennt und er immer dachte, sie sei für alle anderen Menschen ebenso! – noch eine andere Welt gibt und dass so etwas wie Schwerhörigkeit überhaupt existiert und es ein Krankheitsbild zu sein scheint… Dann tun sich unzählige weitere Fragen auf. Er hatte bisher nie darüber nachgedacht, weshalb man auf ein notwendiges Lippenablesen, derart unverständlich reagieren konnte, denn das Lippenlesen machen die anderen doch auch, oder? „Vielleicht haben sie noch bessere und effektivere Techniken, zu kommunizieren und ihre leisen Worte zu verstehen? Vielleicht bin ich nur zu schlecht, um vielen Menschen gleichzeitig in schnellem Hin- und Herwechseln auf den Mund zu schauen und allen Gesprächen und Redebeiträgen folgen zu können, wie es die anderen scheinbar mühelos auch können? Was ist mit mir anders?“ „Wieso bin ich so intelligent und schlau und kann aber in solch fundamentalen gemeinschaftlichen und scheinbar ganz leichten Dingen wie dem Zuhören nicht mithalten? Wieso finde ich keine Freunde und wieso empfinden mich die anderen oft als komisch? Wenn ich frage, welche Technik sie beim Zuhören benutzen, werde ich ausgelacht und bekomme keine Antwort. Ich merke, dass es mir weh tut, aber ich finde mich damit ab und finde meine Freunde in den Bäumen des Waldes und unserem Hund, der mir ebenso schwanzwedelnd entgegen springt, wie meinen Eltern. Mit ihm kann ich doch auch super kommunizieren und er versteht mich.“ – Und auf einmal öffnen sich seine Augen und er beginnt zu verstehen, dass er schwerhörig zu sein scheint!
Aber die nächste Etappe der Ernüchterung kommt noch. Denn erstens gibt es in seinem Heimatland kaum Ohrenärzte, die sich mit Schwerhörigkeit auskennen und ohne eine definitive Aussage eines Fachmannes, könnte auch dieser Verdacht nur ein Irrtum sein – und zudem glaubt ihm nicht einmal seine Familie. „Was soll denn das sein, Schwerhörigkeit?! Ach Blödsinn! Du hast zwei Beine, wie jeder normale Mensch, du hast zwei Arme, wie jeder normale Mensch, Du hast einen Mund, kannst sprechen und Du hast wahrscheinlich einfach nur mal wieder zu viel Fernsehen geschaut! Schwerhörigkeit… sowas gibt es doch nur im Märchen!“, sagen sie.
Auch der Psychotherapeut versteht ihn nicht, zu dem er seit ein paar Sitzungen geht, da er durch all seine Verzweiflung, Kraftanstrengung zu funktionieren und sein Leid des „Lebens wie auf einer Insel“, der Einsamkeit und bohrenden Isolation selbst inmitten einer Menschenmenge und dem dadurch entstehenden „Burnout“, auch wenn er [in Anführungszeichen] „nur“ seinen bloßen Alltag zu bewältigen hat, den doch „jeder normale Mensch ganz easy so nebenbei hinbekommt“…, Hilfe suchte. Doch als er dort diesen vorsichtig geäußerten Verdacht auf Schwerhörigkeit äußert, wird er auch hier weiterhin nur als Person gesehen, die eben einfach nur nicht wolle, sich nicht genug anstrenge oder die sich komische Geschichten ausdenke und damit „vor seinem Inneren und den verdrängten psychodynamischen Konflikten“ wegzurennen versuche.
Wer hält das Jahrzehnte lang aus, ohne zu verzweifeln? Wer kämpft sich weiterhin durch, gibt nicht auf, bleibt sich und seiner Wahrheit, die er im Herzen trägt, treu, auch wenn alle Welt ihn nur herumzuschubsen scheint? Wer schafft es, im Wirrwarr von Deutungen, möglichen Ursachen, Störungsbildern, die ihm begegnen, die er recherchiert, um sich bitte endlich zu verstehen und Lösungen zu finden… und die er alle selbstverständlich als reflektierter Mensch genau betrachtet, sich diesbezüglich hinterfragt, sich und seine hintergründigen und vordergründigen Absichten analysiert… noch geradeaus zu gehen und ohne Halt gebendes Fundament und mit von allen Seiten auf ihn einströmenden zu vielen Reizen seine Wege durch den Alltag zu gehen? Wer widersteht dem Druck der Gesellschaft, die oft nur abschätzige Blicke oder Unverständnis und Ablehnung für einen empfindet, dem Druck des Arbeitsamtes und des neuen Chefs und der Kollegen, die man wieder nur zu leise hört und sie kaum versteht, wenn sie einem sagen wollen, was man als nächstes zu tun hat… und man auch dort letztlich erschöpft und als „anders“ oder „komisch“ abgestempelt aus dem Raster fällt…, sowie dem Druck der eigenen Familie, den einzigen Bezugspersonen überhaupt, die sich einen Menschen wünschen und ihn fast einfordern, „der sein Leben endlich ganz normal auf die Reihe bekommt“?
Manchmal sind da wohlwollende, liebe Hände, die aber doch nicht zu verstehen scheinen, wobei man eigentlich wirklich Hilfe braucht… Denn man will doch nicht über die Straße geführt werden, man braucht auch keinen Rollator oder eine Brille, sondern eigentlich einfach einen Menschen, der bereit ist, seine Welt zu öffnen für Dimensionen, die er vielleicht zuvor noch nie in Betracht gezogen hat, um eine echte Annäherung zu erfahren von einem liebevollen Herzen und einem wachen und freundlichen entdeckerfreudigen Verstand, der sich darauf einlässt, diese Welt der Schwerhörigkeit – oder was auch immer es ist – kennen zu lernen.
Wie erklärt man einem nicht-schwerhörigen Menschen, was Schwerhörigkeit bedeutet?
Wie erklärt man einem Menschen den Geschmack von Erdbeeren, wenn er so etwas noch nie gegessen hat?
Wie erklärt man einem neurotypischen Menschen, wie sich Autismus anfühlt?
Diese kleine Geschichte ist ein Sinnbild für die verschiedensten Verständnis- und Kommunikationsprobleme und der Belastung eines Menschen mit Autismus, der erst spät diagnostiziert wurde. Sie nutzt das Bild der „Schwerhörigkeit“ als Analogie – und man muss verstehen, dass Autismus-Spektrum-Störungen viel mehr sind, als eine Einschränkung auf nur einer einzigen Ebene eines Sinneskanals. Aber vielleicht verdeutlicht bereits diese kleine Geschichte, wie es ist, in einer anderen Welt zu leben und wie wir mit Menschen aus dem Spektrum umgehen sollten, um Welten verstehbar zu machen und ihnen zuzuhören, was sie zu sagen haben, selbst wenn sie nicht sprechen können und manche von ihnen vielleicht nicht mit der Fähigkeit gesegnet sind, zu beobachten und sich zu maskieren und anzupassen, um Kontakt und eine Schnittstelle der verschiedenen Welten überhaupt möglich zu machen.
Vielleicht soll dieser Text auch ein Appell sein, darüber nachzudenken, was wir unter dem Begriff „Integration“ verstehen und ob sich der autistische Mensch an die Gesellschaft in der Art anpassen und all seine Kraft dafür aufwenden sollte, zu funktionieren und eine Arbeit zu leisten, die jedoch auf Kosten seiner Lebensqualität geht und mehr einer Ausbeutung der Arbeitskraft, als einem menschenwürdigen und erfüllenden Leben gleicht? Oder ob Integration vielmehr heißen könnte, Welten zu verstehen – sich gegenseitig wie in einer Expedition in unbekanntes Terrain ohne Vorurteile und mit ganz viel freundlicher Neugier kennen zu lernen – um dann herauszufinden, wie man sich besser verständigen kann, woher Missverständnisse kommen und um dem Autisten gegenüber Freund und Partner zu sein, der möchte, dass es diesem Menschen gut geht – und zugleich der autistische Mensch die Möglichkeit bekommt, über das Kennenlernen der „Welt, in die er hinein geboren ist“, diese zu erfassen, zu begreifen und nach und nach auf eine ihm bekömmliche und für alle bereichernde Weise „mitspielen“ zu können und sein Grundbedürfnis nach Kontakt und Miteinander, nach Freude, Frieden und seinem Dienst, der Welt etwas Gutes zu tun, den Weg zu ebnen?
Welten verstehen – das ist die Voraussetzung von Mitgefühl, Wertschätzung, Entwicklung und Wachstum.
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