Ein kritischer Beitrag zum Thema Autismus und wie mit dem ganzen Thema in den Medien und in der Öffentlichkeit umgegangen wird.
Formulierungen wie „autistische Züge“ zu haben, können wir auf diversen Internetplattformen immer häufiger finden, mancherorts gibt es sogar bereits Fragenkataloge und Onlinetests um bei sich selbst oder einer anderen Person „autistische Züge“ festzustellen.
Dabei handelt es sich meistens um sehr weite Interpretationen autistischer Kernmerkmale oder nur annähernd-autistische Symptombeschreibungen. Es wird so formuliert, dass ein Mensch autistische Züge hat, wenn er nur eines oder ein paar der Randkriterien aufweist, welche bei klinisch diagnostiziertem Autismus zutreffen können (oder diesem zugeschrieben werden), aber bei dieser Person in Ermangelung der notwendigen Kriterien noch keine Diagnose auf Autismus-Spektrum-Störung gestellt werden kann. Es lassen sich durchaus Webseiten finden, auf denen man dann nach einer solchen Selbsteinschätzung, begleitet von geheimem Stolz oder dem Gefühl, dabei sein zu können, in die „Autismus-Community“ aufgenommen wird.
Ich kann verstehen, dass Menschen nach Zugehörigkeit suchen und dass es ein gutes Gefühl ist, sich nicht von der allerbesten oder einer makellosen Seite zeigen zu müssen, sondern gerade WEGEN seiner Problembereiche angenommen zu sein und irgendwo dazu zu gehören. Letztlich sehnen sich alle Menschen danach, angenommen zu sein, ohne sich verstellen zu müssen.
Und ich kann nachvollziehen, dass durch das ebenfalls medienwirksam verschönte Bild, was „Autismus“ sei, welch eine „super-power“ und „Klasse der Genies“ oder welch eine anzustrebende „Besonderheit“, die einen aus der „grauen Masse der langweiligen Normalität“ abhebt, oder aber die Teil der „Regenbogen-Welt“ ist, die man als schön, bunt, bereichernd und endlich wieder mit einem Gefühl für Individualität und Gesehen- und Anerkannt-Werden verbinden kann, nach dem man sich so sehr sehnt, sich manch einer gern damit interdizieren möchte. Ja, es manch einer sogar als Angriff gegen seine Individualität und seine Freiheit empfinden mag, wenn dann jemand kommt, der sagt, dass dieses Kleid, das er sich da gerade anzuziehen versucht, nicht dafür gemacht ist, einfach so „gewählt“ zu werden – und dass es nicht nur eine äußere Erscheinung des „Autismus“ gibt, sondern dass jemand, der tatsächlich autistisch ist, eben NICHT nur „Züge“ oder Verhaltensweisen davon zeigt, sondern diese Verhaltensweisen allein DESHALB entstehen, weil im INNEREN der Person grundlegende Strukturen anders sind als bei allen anderen neurotypischen Menschen.
Es ist nicht nur ein äußeres Verhalten, sondern das Verhalten ist Symptom und Folge von inneren Defiziten und massiven Problemen.
Hier wird ein Störungsbild, welches per Definition eine TIEFGREIFENDE ENTWICKLUNGSSTÖRUNG ist und in den allermeisten Fällen eine Schwerbehinderung darstellt, dazu benutzt, sich eine Community-Blase aufzubauen oder „dazu zu gehören“ oder es sich fast „aussuchen zu können“ ähnlich einem Hobby als Fußballer oder einer sozialen Rolle… – und daraus folgt, dass die tatsächlich Betroffenen, die eine klinische Diagnostik durchlaufen haben und die an einer Autismus-Spektrum-Störung leiden, nicht mehr ernst genommen werden/ nicht mehr gesehen werden/ sich von immer weniger autistischen „Autisten“ immer weniger verstanden fühlen können – und viele weitere Probleme entstehen.
Ich möchte an dieser Stelle anmerken, dass wir ja auch nicht auf die Idee kommen würden, uns als „ein bisschen Gehbehindert“ oder „mit gehbehinderten-Zügen“ darzustellen, nur weil wir abends auch gern mal die Beine hochlegen und uns auf die Couch setzen. Was würde ein Rollstuhlfahrer dazu sagen, wenn wir uns zunehmend auch in den Kreis der Gehbehinderten einordnen und uns darüber definieren würden?
Wir sagen ja auch nicht, dass wir „ein bisschen Taub“ sind oder „Taubheits-Züge“ haben, nur weil wir manchmal akustisch nicht verstehen, was jemand zu uns gesagt hat.
Warum nicht? Weil es etwas grundlegend ANDERES ist, tatsächlich taub zu sein oder aber ein völlig normales und intaktes Gehör zu haben und manchmal einfach abgelenkt zu sein oder in Gedanken versunken zu sein und deshalb situativ (und nicht aufgrund einer Behinderung!) schwer zu hören.
Was will ich hiermit sagen?
Dass es ein gravierender UNTERSCHIED ist, ob jemand Autist ist und eine entsprechend völlig andere Wahrnehmung und neuronale Reizverarbeitung (mit all den Folgeproblemen und sichtbaren wie unsichtbaren Einschränkungen) hat, oder ob sich ein Mensch mit neurotypisch entwickeltem Hirn eben einfach mal gern zurück zieht und allein ist oder von einem Hobby sehr besessen wirkt oder er gern träumt und „in seiner Welt“ zu leben scheint.
Was bedeutet „autistische Züge“ zu haben genau?
Wenn wir behaupten, jemand hätte „autistische Züge“, was meint die Mehrheit der Menschen damit eigentlich? Was verstehen die Menschen eigentlich unter AUTISMUS, die so etwas sagen? Welche Merkmale nennen sie dabei, wenn sie so etwas äußern?
Wissen sie, dass ein autistischer Mensch – AUCH WENN ER im Alltag durch ein sehr perfektioniertes Masking und ein hohes Funktionsniveau kaum nach außen hin als „anders“ auffällt und er seine Schwächen und Defizite sehr gut und unter großer Kraftanstrengung kompensiert – er DENNOCH diese Defizite und Probleme HAT?
Wissen diese Menschen um die TIEFGREIFENDEN Schwierigkeiten, die Autismus per se ausmachen? Wurden sie informiert zu diesem Störungsbild?
Oder ist es eher so, als ob sich ein Mensch eben in einen Rollstuhl setzen kann, wenn er müde Beiden bekommt und keine Lust mehr hat, zu gehen oder er seine Arme trainieren möchte – und er sich dann „Gehbehinderte-Züge“ mehr als belustigendes Label, als Hobby oder aufgrund von Unkenntnis zuschreibt?
Ich weiß, dass dieses Beispiel an den Haaren herbei gezogen wirken kann. Aber es muss mit solche einem Bild in dieser Deutlichkeit gesagt werden, damit endlich ein Verstehen und Begreifen entstehen kann, wo zuvor ein schwammiges Bild von Irgendwas war.
Jeder autistischer Menschen hat zum Beispiel in der sozialen Interaktion riesige neuronal bedingte/ angeborene Andersartigkeiten (Thema Empathie, Theory of Mind usw.), die dazu führen, dass der Betroffene tatsächlich grundlegende und essentielle Fähigkeiten NICHT oder nur ganz rudimentär und defizitär besitzt, die alle anderen neurotypischen Menschen ganz automatisch und intuitiv haben. Und vielleicht denken neurotypische Menschen über diese Fähigkeiten daher nicht einmal nach, oder darüber, dass man diese Fähigkeiten NICHT haben könnte – gerade WEIL sie doch „völlig normal“ sind, wie auch dass wir voraussetzen, dass jeder Mensch, der aussieht wie ein Mensch und der eine Nase und einen Mund und eine Haut hat, riechen und schmecken und tasten kann?
Was wäre, wenn ein Mensch geboren würde – und er keine Möglichkeit hat, ein Gefühl in sich zu spiegeln und zu fühlen, das man ihm zeigt oder vermittelt, wenn man ihn als Mama bespaßen oder mit ihm spielen will oder ihn als Klassenkamerad anschaut oder mit ihm spricht und man ihm begeistert von seinem Wochenendausflug berichtet? Was wäre, wenn ein Mensch immer wie in einer Glaskugel säße – und er um sich herum etliche Menschen beobachten kann und gar nicht versteht, was die da machen und warum? Ein Mensch wie aus einer fremden Kultur, dem man dies aber auf den ersten Blick und äußerlich gar nicht ansieht? Und der einsam ist, auch wenn er alle Tipps versucht umzusetzen, um Freunde zu finden, aber alle ihn auf eine sonderbare und unverständliche Weise „komisch“ empfinden oder trotz dass er nett und freundlich ist, sich irgendwie nicht zu ihm hingezogen fühlen? Und es ist ein Mensch, der täglich damit zu kämpfen hat, diese fremde Welt, diese bedrohliche und unberechenbare und unbekannte Welt irgendwie zu verstehen, zu ordnen, einzuordnen, was von allen Seiten auf ihn einströmt. Eine Fremdsprache zu lernen, die ihm keiner erklären kann, weil zu vieles einfach für die Menschen dieser Kultur, in die er hinein geboren ist, ganz automatisch und unbewusst abläuft und sie es meist gar nicht richtig in Worte fassen und erklären könnten, selbst wenn sie es wollten? Welchen Alltag würde dieser Mensch erleben, der sich mit allen Mitteln vor diesem Zuviel einer unberechenbaren und daher bedrohlichen und reizüberflutenden Welt schützen muss…? Der dann durch seine Verhaltensweisen, genau diesen Halt und diese innere Sicherheit zu kreieren (indem er schaukelnde Bewegungen macht oder alles sortiert und im Außen eine Struktur und einen Rhythmus herstellt, um sich daran festhalten zu können), wieder als „Sonderling“ auffällt, vielleicht sogar kritisiert wird, abgelehnt, gemobbt, weil er nicht versteht, was es bedeutet, wenn man mit Ironie zu ihm spricht oder wie er sich am besten in einer sozialen Situation in der Schule, zu Besuch, auf der Straße, im Gespräch etc. verhalten soll…?
Was würden wir für diesen Menschen empfinden, wenn wir all seine Probleme wüssten?
Und was würde dieser Mensch empfinden, wenn wir ihn nicht verstehen würden oder wir ihn ausschließen, wir immer nur Nein zu ihm sagen oder ihn aus Unsicherheit oder Angst ignorieren – oder wir uns anmaßen und behaupten, genauso zu sein, wie er; wir ihn doch aber eigentlich, wenn wir ehrlich sind, gar nicht verstehen und daher gar nicht einschätzen können, ob wir sind wie er?
Das Informationsproblem
Ich behaupte, es ist ein reines Informationsproblem, weshalb überhaupt die ganze Debatte um „Autistische Züge Haben“ und „(selbsternannter) Autist sein“ aufkam. Ich möchte nicht über Personen richten, die es nicht besser wussten. Ich urteile auch nicht über Menschen, die bislang mit solchen Aussagen um sich geworfen haben, weil sie unter einem „Autistisch-Sein“ einfach etwas anderes verstanden haben, als es wirklich ist.
Aber umso mehr empfinde ich es als unser aller Verantwortung, von uns autistischen wie neurotypischen Menschen als Gemeinschaft – dass wir alle dafür sorgen, dass niemand leiden muss. |
Und leider ist es so, dass gerade autistische Menschen sehr darunter leiden und immer mehr leiden werden, wenn wir das ganze Thema nicht mehr präzise vermitteln und klar stellen, was Autismus ist und was nicht und wir die Probleme der autistischen Menschen, die viel Kraft aufwenden (können), ihre Symptome zu verbergen oder zu kompensieren, aus Unkenntnis bagatellisieren.
Denn Fakt ist, dass der Begriff „autistische Züge“ KEINE Diagnose der internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD) ist, welche all unsere Ärzte als Grundlage all ihrer Diagnosen verwenden. Die ICD ist wissenschaftlich fundiert und wird regelmäßig geprüft und an die aktuellen Forschungsstandards angepasst. Und weder die letzte Fassung (ICD-10), noch die aktuelle Fassung ICD-11, die 2022 bereitgestellt wurde, beinhaltet eine Diagnose oder eine Teil-Diagnose mit „autistischen Zügen“. Daher ist es auch keine Störung und kein Krankheitsbild.
Ich kann nicht verstehen, dass scheinbar tatsächlich Ärzte zu besorgten Eltern sagen, „Ihr Kind hat autistische Züge“. Was wird damit erreicht? Dass die Eltern sich noch mehr sorgen und überlegen, was sie falsch gemacht haben – oder dass sie ihr (eigentlich normales!) Kind zum Außenseiter degradieren oder ihm schon früh mit auf den Weg geben „Du bist ANDERS.“ Oder „wir machen uns um Dich sorgen“? Und „anders“ ist für ein Kind, das dazugehören möchte, prinzipiell erstmal sehr ungünstig! Auch wenn das bedeutet, dass es vielleicht mehr Aufmerksamkeit bekommt oder frühe Förderung oder eben auch die FALSCHE Therapie… weil das, was das Kind hat, nicht das ist, was man „behandelt“.
Ich habe zur Verdeutlichung, wie das innere Leiden von Asperger-Autisten aussehen könnte und wie ihre Welt und ihr Verhalten von neurotypischen Menschen zumindest etwas besser nachvollzogen werden kann, eine kleine Analogie als Geschichte verfasst, die Du auch >HIER finden kannst. Sie heißt „Der Schwerhörig Geborene“.
Fazit
Es mag sein, dass es Menschen gibt, die Verhaltensweisen an den Tag legen, die wir seltsam empfinden und die man als autistisches Verhalten interpretieren kann. Es mag auch sein, dass es Menschen gibt, die manchmal Züge von Borderline haben oder von Depressionen oder narzisstische Züge etc. aufweisen. Es ist aber wichtig, dies ganz klar abzugrenzen von tatsächlichen klinischen Diagnosen – und vor allem um eines klar zu machen:
Es hilft NIEMANDEM weiter, weder dem Betroffenen, noch dem „Halb-Betroffenen“, wenn wir hier unachtsam und vorschnell mit (Laien-)Diagnosen und Labels um uns werfen. Und noch weniger, wenn wir Identifikations-Communitys aufbauen, die den wahren Kern des Störungsbildes verkennen.
Und es hilft niemandem, wenn wir Menschen, die ein Störungsbild gar nicht klinisch relevant aufweisen, einen Diagnosebegriff zuschreiben, sie abstempeln, damit abwerten, beschämen oder nur einen Witz machen wollen oder sie mit einem falsch verstandenen Integrationsgedanken als „ein buntes bereicherndes Puzzleteil von vielen“ darstellen, das „gar kein Problem IST – und damit auch keines HAT“… ohne ihnen durch ein achtsames und aufrichtiges Wahrnehmen der Fakten und ihrer Lebenswirklichkeit, ihnen den Zugang zu der Hilfe einzuräumen, die sie bräuchten.
Ich hoffe, mit diesem Beitrag, auch wenn ich hier vielleicht den einen oder anderen etwas getriggert oder herausgefordert habe oder sich jemand kritisiert fühlt, insgesamt verdeutlicht zu haben, was ich damit sagen wollte.
Und gern wiederhole ich den wichtigsten Satz aus meinem Beitrag am Ende nochmals und wünsche mir, dass ich den richtigen, freundlichen und klaren Unterton dabei rüber bringen kann:
Es ist unser aller Verantwortung – von uns autistischen wie neurotypischen Menschen als Gemeinschaft – dass wir alle dafür sorgen, dass niemand leiden muss. Und das bedeutet, Klarheit zu schaffen und ein liebevolles und respektvolles Miteinander und v.a. vorausschauend zu handeln, um auch kein zukünftiges Leid (z.B. durch immer mehr verknappte Ressourcen an Hilfeleistungen oder Diagnostikmöglichkeiten für die wirklich Bedürftigen unserer Gemeinschaft) zu erzeugen.
Vielen Dank für eure Bereitschaft, bis hier hin zum Ende diesem Beitrag und seinem Inhalt zu folgen.
Im Namen aller Betroffenen und aller überforderten und überfüllten Diagnostiker und helfenden Berufe, Danke für euer Verständnis.
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