Psychologie, Selbsthilfe und Persönlichkeitsentwicklung


Reizüberflutung – „Gewöhnungs-Training“ ein Fehler?

Warum kann ein autistischer Mensch nicht von „Gewöhnung“ an belastende Situationen profitieren? Wieso kann (Selbst-)Zwang, es „erfolgreich durchzuhalten“ die Probleme sogar verstärken?

Jeder von Autismus Betroffene wird es kennen – es gibt (soziale)/reizüberfüllte Situationen, die derart viel Stress auslösen, dass man sie am liebsten meiden würde. Und es gibt auf der anderen Seite die Haltung, dass man sich ja nicht „scheuen“ soll, dass sonst alles ja noch viel schlimmer würde, dass man sich eben mal „überwinden“ solle, durchhalten, trotzdem ins Kino oder in das riesige Einkaufszentrum gehen… usw. Und die Idee dahinter klingt zunächst logisch:

Wir kennen es von der klassischen Angst – Auch hier ist es ähnlich: Dem Betroffenen, der in der bestimmten Situation Angst bekommt, obwohl diese Angst objektiv unbegründet ist [analog dazu: der autistische Mensch bekommt „Stress“, obwohl alle neurotypischen Menschen diese Situation nicht als sonderlich belastend oder überlastend empfinden], wird geraten, diese Angst zu überwinden – indem er sich der Angst auslösenden Situation immer wieder stellen soll und somit sich daran gewöhnt und „möglichst viele gute neue Erfahrungen macht, dass es ja gar nicht schlimm war“ und seine Angst demnach als unbegründet erlebt und sie nach und nach verschwindet.

Eine solche Gewöhnung nennt man in der Psychotherapie Habituation. Eine Gewöhnung an Angst und Unbehagen auslösende Reize und somit die Reduzierung oder das völlige Abstellen einer Angst-Reaktion.

Eine solche Haltung finden wir bei vielen Menschen, nicht nur in therapeutischen Berufen – und in der Konsequenz sagt der Betroffene dies vielleicht sogar selbst zu sich und versucht, kein Weichei oder kein „Anstrengung scheuendes Wesen“ zu sein und wird solche reizüberflutenden Situationen demnach doch brav aushalten wollen, durchstehen und er macht sich vielleicht sogar innerlich „dicht“ dabei, dissoziiert von der eigenen Körperwahrnehmung, weil eigentlich DOCH gerade alles zu viel ist, aber „man es ja aushalten will“, um „gute neue Erfahrungen“ zu machen und dem Dämon einer befürchteten Angst-Vergrößerung, falls man flüchten würde, zu entgehen.

Aber die Frage ist, hilft das wirklich? Ist es definitiv das, was den Betroffenen langfristig zu einem weniger gestressten Menschen macht und ihm neue Freiheitsgrade eröffnet?

Die Hirnforschung1 sagt uns etwas anderes dazu.

Unser Gehirn braucht, um neue gute Erfahrungen zu machen und diese auch tatsächlich neuronal zu bahnen und zu festigen zwar neue Erfahrungen – ABER diese Erfahrungen müssen zwingend auch mit Bedeutsamkeit aufgeladen sein, von Hormonen begleitet, welche die Kaskade der Bildung neuer Synapsen und Fortsätze der Nervenzellen erst in Gang setzen und ermöglichen. Prof. Dr. Gerald Hüther spricht hier davon, dass die „Dünger-Gießkanne“ im Hirn erst dann aktiviert wird und erst dann eine Erfahrung auch wirklich „in uns ankommt“, wenn wir sie nicht nur einfach so machen und erleben – sondern wenn es eine Erfahrung ist, die für uns bedeutsam ist und die wir wirklich bewusst machen.

Wer nun in dieser Erfahrung aber dissoziiert ist, wer sich selbst oder seine Umwelt dabei gar nicht mehr richtig wahrnimmt… wer maskiert eine Situation nur aushält und so tut, als könne er es genießen (ja, es mag ja auch nett sein, aber es ist ein Unterschied, etwas genießen zu WOLLEN oder es auch tatsächlich als Genuss und nährend zu EMPFINDEN)… wer in der Erfahrungssituation unter derart großem Stress steht, dass sein Frontalhirn nur noch auf „Notstrom“ läuft… wer in eine Erfahrung hinein gezwungen wird oder sich selbst dazu zwingt… wer einfach nur stupide etwas auswendig lernen soll… der wird bei all dem nicht in der Lage sein, das, was er da an neuer Erfahrung gerade erlebt, wirklich in sich aufzunehmen.

Die Erfahrung geht förmlich am Menschen vorbei. Und nicht nur das; sie hinterlässt meist noch mehr Stress, vielleicht bei einem autistischen Menschen sogar einen Meltdown, spätestens wenn er wieder zuhause ist und seine letzte Kraft durchzuhalten und das Masking zu halten, aufgebraucht ist…

Missverständnis Nr. 1:

Gegen Reizüberflutung hilft keine Gewöhnung. (Sollte es keine strukturelle, neurologisch bedingte und angeborene zu starke Reizwahrnehmung sein, sondern ein subjektives Hineinsteigern durch kognitiv verzerrte Bewertungen eines Reizes, hilft Gewöhnung aber ebenso wenig, denn hier bräuchte es eine andere Herangehensweise, die ihrerseits gute Erfolge erzielt.)

Missverständnis Nr. 2:

Wenn ein autistischer Mensch Stress in einer (sozial-)/reizüberflutenden Situation hat, ist das nicht grundlegend gleichzusetzen mit Angst davor, an welche man sich therapeutisch tatsächlich gewöhnen könnte (Habituations-Training). (siehe auch ergänzend den Beitrag „Soziale Reizflut“ >HIER)

Missverständnis Nr. 3:

Das in vielen Bereichen von zwischenmenschlichen Diskussionen bis hin zu diversen fachlichen Behandlungen praktizierte SYMPTOM-Unterdrücken und Symptom-Wegmachen ist KEINE Lösung der wahren URSACHE des Problems. Hat eine Pflanze Läuse, weil sie nicht genug Nährstoffe in der ausgelaugten Pflanzerde ihres Blumentopfes vorfindet, kann man natürlich die Läuse absammeln oder mit Chemie bekämpfen. Sie werden aber wieder kommen, denn die Läuse lieben kränkelnde Pflanzen und solange man nicht die Ursache beseitigt und der Pflanze eine gute neue Erde gibt, welche sie mit allem versorgt, was sie braucht, wird sie das Symptom nie langfristig los (Das ist nur ein Beispiel; da ich kein Gärtner bin, soll dies nur inhaltlich den Sachverhalt verdeutlichen).

Finden wir die Ursache des Problems

Warum hat der Mensch diese überdimensionale Reizwahrnehmung? Warum wird er von solch einer Situation schneller gestresst als ein neurotypischer Mensch? Und vor allem:

Was können wir dem Menschen geben, was braucht er, um gar nicht erst einen solch hohen Stress erleben zu müssen in dieser Situation?

DIESE Fragen sollten wir uns viel eher stellen, als die Parolen um uns zu werfen, „Geh halt trotzdem hin! Halte es mal durch, Du wirst hinterher merken, dass es gar nicht so schlimm war und dann hast Du gute neue Erfahrungen.“

Eigentlich schlagen wir dem autistischen Menschen hier folgendes an den Kopf: „Setze noch mehr Kraft ein, Dein Masking und Funktionsniveau auf Deiner Oberfläche zu halten – egal, ob Dir das dann Spaß macht oder nicht – versuche dabei zu lächeln und suche nach Dingen, die du den anderen erzählen kannst, die ja ganz nett waren in der Situation – und wie es Dir hinterher geht, ist uns eigentlich egal, denn das bekommen wir in den meisten Fällen eh nicht mit. WIR können Dich dann loben und dich wie einen dressierten Hund beklatschen, wenn du durchgehalten hast und damit wir uns selbst einreden können, dass wir hier etwas Gutes in der Überzeugungsarbeit geleistet haben, werden wir es Dir auch sagen, dass es ja gar nicht so schlimm war – und wir wollen dafür Bestätigung von Dir haben.“

Ja, manche Menschen verstehen es einfach wirklich nicht und verhalten sich einem autistischen Menschen gegenüber so, weil sie es 100% aus guter Absicht heraus tun.

Aber zumindest der Betroffene sollte für sich spüren, ob das für ihn stimmt (dann ist ja alles ok und er kann und sollte es auch so tun) – oder ob es nicht stimmt.

Und wenn es nicht stimmt und wenn ein derartiges Durchhalten letztendlich nach der Kosten-Nutzen-Rechnung ins Minus geht, sollten wir weg gehen von den Symptomen und schauen, was dem Menschen TATSÄCHLICH hilft und es langfristig besser macht – damit er in Zukunft mit Freude in solche Situationen geht und genährt heraus kommt.

Was ist die wahre Ursache hinter der Reizüberflutung?

Extrem stark auf Reize zu reagieren, z.B. im Kino die Musik oder auf einem großen Frühlingsfest die Menge der Geräusche, oder bei manchen stark betroffenen Menschen bereits das Schreien eines einzelnen Kindes oder das Tönen des Rasenmähers als unaushaltbar bohrend laut zu empfinden und daher den Ort/ die Situation nur ertragen zu können, wenn man sich innerlich abschaltet… sich gedanklich wegbeamt… All diese heftigen Auswirkungen von („normalen“) Sinnes-Belastungen aller Art haben eine gemeinsame Ursache.

Leiten wir sie zum besseren Verständnis hier einmal kurz her:

Reizüberflutung entsteht durch „Stress“ bzw. zu-viel-Stress. Durch Übererregung im Nervensystem. – Und hier meine ich nicht direkt oder ausschließlich die Übererregung, welche in der betreffenden Situation durch die einströmenden Reize entsteht.

Eine generelle Übererregung im Nervensystem hat mehrere Gründe. Der Hauptgrund, der m.E. bei allen Menschen in großem Maße dazu beiträgt, dass das Stresslevel nie so richtig unten ist und bildlich gesprochen „das Fass immer schon relativ voll“ ist und deshalb jegliche zusätzliche aversive Situation/ Einfluss und Reiz, dieses Fass zum Überlaufen bringen kann ist: Fehlendes Fundament. Mangelnde Befriedigung wirklich echter, tiefer Grundbedürfnisse des Menschen (dies sind vornehmlich die beiden essentiellen und in jedem Menschen bereits durch pränatale Erfahrungen herausgebildeten Bedürfnisse nach Verbundenheit/ Zugehörigkeit/ Angenommensein und nach Autonomie/Wachstum/Freiheit) – Laut Prof. Dr. Gerald Hüther und zahlreichen Studien mit Hirnscans bildlich nachgewiesen2, erzeugt ein nicht befriedigtes Grundbedürfnis das selbe neuronale Erregungsmuster im Hirn wie körperlicher Schmerz! – Und wer würde permanenten körperlichen Schmerz auf Dauer aushalten, ohne bei einer kleinsten zusätzlichen Berührung laut aufzuschreien oder es nicht mehr auszuhalten, wenn NOCH MEHR dazu kommt?

Wenn wir das Grundstresslevel auf ein natürliches Niveau absenken können, wird in den allermeisten Fällen auch ein Reiz/ eine Situation NICHT mehr über unsere Kapazitäten hinaus schießen. Prof. Dr. Daniel J. Siegel beschreibt hierzu unser „Window of Tolerance“3, den Bereich von Anspannung und Erregung im Nervensystem, innerhalb dessen wir all unsere normalen Emotionen erleben und gut regulieren können. Bricht eine Erregung aber über die obere Schwelle des Window of Tolerance hinaus, werden wir dysreguliert, überfordert, überflutet… mit entsprechenden individuellen Stress-Folgen des Hyperarousals (ÜBER-Erregung), das dann entstanden ist.

Das bedeutet:

Wenn wir an den wahren Ursachen des inneren Stresses arbeiten, wenn wir dem Menschen ermöglichen, das zu bekommen, was er braucht, um seine menschlichen Grundbedürfnisse zu befriedigen (neben weiteren Möglichkeiten, Stress generell abzubauen wie die Persönlichkeitsentwicklung oder Training der sozialen Kompetenzen etc. pp.) – so wird in den meisten Fällen bereits dies genügen, um zuvor als „zu heftig“ und „zu stressig“ erlebte Situationen und Reize viel besser auszuhalten – bzw. man müsste eher sagen: gut vertragen zu können und dabei innerlich assoziiert (mit sich selbst und der Umwelt dabei verbunden) zu bleiben – und damit WIRKLICH diese gute neue Erfahrung auch im eigenen Inneren abspeichern und verankern zu können – und damit langfristig das eigene Nervensystem zum Positiven und zu mehr Freiheitsgraden zu bringen. Auf eine liebevolle Weise, statt mit der Brechstange oder Zwang und Überwindung.

Ich bin der Ansicht, dass jegliche Überwindung im Grunde falsch ist – auch bei Ängsten etc. Weil eine Angst oder das Erleben einer inneren Barriere oder Grenze immer damit zu tun hat, welche Ressourcen und welches Fundament und welche Kraft ein Mensch gerade in sich hat. Wer etwas tut, was diese seine Grenzen überschreitet, der hätte vielleicht bessere Erfolge und wäre liebevoller mit sich gewesen, wenn er sich vielmehr statt gegen eine Grenze (auch eine Angst oder ein Übermaß an Stress und Belastung) anzugehen, DAS gegeben hätte, was er braucht, um diesen nächsten weiteren Schritt ganz einfach gehen zu können. Und dann wäre auch keine Grenze/ keine Überwindung mehr notwendig gewesen, denn es gäbe nichts mehr zu überwinden, sondern nur noch die Freude, etwas Neues zu erleben und zu entdecken und zu erfahren, weil diese Freude auf einem guten Halt erwächst. Irrationale Ängste brauchen natürlich zusätzlich auch Ratio/Verstand und Verstehen, reale Ängste brauchen zusätzlich reale Handlungen gemäß diesem Hinweisgefühl der Angst (Abhang steil, vorsichtig sein um nicht zu fallen etc.), aber alles braucht m.E. ein tragfähiges Fundament. Und generell bin ich der Meinung, dass wir besser daran täten, wenn wir Ursachen lösen, statt Symptome zu übergehen oder glatt zu bügeln und ungesehen zu machen.

Denn worum es letztlich geht – und gehen sollte! -, ist ja nicht das Funktionieren eines Menschen, der dann wie ein Roboter handelt und innerlich unglücklich ist, sondern dass es dem Menschen gut geht und er würdevoll leben kann. Und nicht jeder Mensch muss das gleiche tun oder können – und nicht jeder Mensch ist gleich robust oder feinfühlig – und solange der Mensch wirklich in sich glücklich ist, so wie er ist und lebt, muss er keine Grenze überschreiten. Weder eigene noch die der anderen. Und Wachstum und Potenzialentfaltung gelingen ganz von selbst, wenn der Mensch seine beiden existenziellen Grundbedürfnisse1 befriedigt hat. Und ein „Wachstum des eigenen (inneren) Raumes“ und der eigenen Fähigkeiten und Potenzialentfaltung ERWEITERT Grenzen und schafft Freiheit, ohne Grenzen überschreiten zu müssen.

Quellen:

1 Prof. Dr. Gerald Hüther, Das Geheimnis des Gelingens, URL: https://geraldhuether.de/Mediathek/Potentialentfaltung/Geheimnis_des_Gelingens.mp4 (Abgerufen am 15.02.2023)

2 Prof. Dr. Gerald Hüther, Sucht als moderne Form der Angstbewältigung, URL: https://geraldhuether.de/Mediathek/Sucht/Sucht_als_Angstbewaeltigung.mp4 (Abgerufen am 15.02.2023)

3 Prof. Dr. Daniel J. Siegel zit. in: What Is the Window of Tolerance, and Why Is It So Important? 23.05.2022, Davia Sills, URL: https://www.psychologytoday.com/us/blog/making-the-whole-beautiful/202205/what-is-the-window-tolerance-and-why-is-it-so-important (Abgerufen am 14.10.2022)

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